Sieben Thesen zu "Gemeinde der Zukunft" (alt-katholisches Jahresthema 2021)

 Und wie angekündigt hier meine sieben Thesen:


1) Alt-Katholische Gemeinde der Zukunft wird diverser.

Unsere Kirche war noch nie überall gleich. Bereits in den 1870er Jahren waren unsere Mitglieder eine Mischmenge aus liberalen, demokratischen, nationalen, spirituellen, aufklärerischen, verkopften, antiautoritären und kämpfenden Charaktären (ohne Anspruch auf Vollständigkeit in der Auflistung) - die überhaupt nicht homogen war! Der gemeinsame Gegner war leicht zu definieren, aber wohin die Reise gehen sollte, wurde damals schon kontrovers gelebt. Insofern ist Diversität in unserer Kirche eigentlich nichts Neues. Aber sie wird sich zukünftig anders zeigen. Da es heute keine geschlossenen ortsübergreifenden Milieus in alter Prägung mehr gibt, werden unsere Gemeinden zukünftig noch mehr vom konkreten Lebensumfeld vor Ort in ihrer Identität geprägt werden. Ob Metropole, Großstadt, Kleinstadt oder Dorf; Weg- oder Zuzugsregion; Hippstertown, urbane Umgebung oder ländlicher Raum. Die jeweiligen Themen und Lebenswelten werden immer diverser sein (Geschlechterdiversität z.B. mag in einigen Regionen als "Gendergaga" gesehen werden - in Berlin und anderen Städten ist jedoch der sensible Umgang mit dem Thema auch in unseren Gemeinden Alltag. Ein anderes Beispiel: Genussvoller Fleischverzehr ist in den meisten unserer Gemeinden beim Gemeindefest normal, während sich die eher vegangeprägten Kosmopoliten alleine beim Gedanken daran ekeln. Uvm.), so dass auch unsere Gemeinden immer diverser in ihren Wertvorstellungen und Lebensrealitäten werden.  

2) Alt-Katholische Gemeinde der Zukunft wird konfliktreicher.

Bedingt durch die höhere Diversität zwischen und in unseren Gemeinden werden gelebte Richtungskämpfe alltäglicher werden. Unterschiede in für jemanden zentralen/wichtigen Werten auszuhalten ist eine große Kunst und es wird noch stärker als bisher von den Leitungen unserer Kirche – auf Bistums-, Dekanats-, oder Gemeindebene - abhängen diese gut zu moderieren und unseren „Laden“ damit zusammenzuhalten.

3) Alt-Katholische Gemeinde der Zukunft wird teurer.

Die Prognosen für die Kirchensteuereinnahmen und Staatszuschüsse sind eindeutig: Erstere werden sinken und zweitere werden fallen. Für uns als kleine Kirche bedeutet das einen größeren finanziellen Einschnitt als für die beiden Großkirchen, da diese auch noch andere Rück- und Anlagen haben als wir. Alleine um unsere Personaldichte halten (falscher Ansatz! besser ausbauen) zu können, müssen wir uns also in Bezug auf Fundraising, gutes Immobilienmanagement und eine gezielte Spendenkultur wesentlich kreativer auf die Beine stellen oder etwas bisher Neues wagen (Kultussteuer?). Auf große Vorbilder können wir in Zeiten von Corona freilich nicht mehr verweisen, denn gerade die rein spendenbasierten Frei- und altkonfessionellen Kirchen haben es derzeit sehr schwer ihre Finanzen zu halten.

4) Alt-Katholische Gemeinde der Zukunft wird säkularer und radikaler.

Was zunächst wie ein Widerspruch klingt, liegt bereits in unserer alt-katholischen DNA: wir sind eine klar zeitgeistige Kirche, weil wir seit unserer Kirchwerdung den Zeitgeist per se nie als etwas Schlechtes betrachtet haben (zwischen 1933 und 1945 fiel daher auch unsere Kirche diesbezüglich „auf die Schnauze“) und unsere Kirchlichkeit immer weltzugewandt bzw. besser ausgedrückt als Teil dieser Welt gelebt haben. Viele andere Kirchen sind diesbezüglich andere Wege gegangen und haben sich in Distanz zur (vermeintlich bösen, unheiligen und sündhaften) Welt verstanden - aber für uns war dies keine Option. Durch die Konversionen aus anderen Kirchen kamen und kommen immer wieder aber auch andere Glaubensvorstellungen hinzu, die manchmal gegensätzlich aufeinander prallen. Meine These: wir werden durch diesen Auseinandersetzungsprozess zeitgleich säkularer in unserer Einstellung zur Religion als solche aber radikaler in den gelebten Frömmigkeitsstilen.

5) Alt-Katholische Gemeinde der Zukunft wird neue Partner finden.

Die Ökumene steckt derzeit in vielen Bereichen in einer Sackgasse. Die großen Frontlinien sind geklärt und die meisten haben sich mit dem Status Quo arrangiert. Meines Erachtens werden unsere Gemeinden aufgrund der seit unserem kirchlichen Bestehen vorhandenen ökumenischen Neugier nicht beim "Ökumenischen Jetzt" stehen bleiben, sondern neue Partner im christlichen/ Christentumsnahen/ interreligiösen Spektrum finden, die den jeweils vor Ort gelebten Werten eher entsprechen als die auf den ersten Blick nahestehenden evangelischen und römisch-katholischen Gemeinden der Nachbarschaft. 

6) Alt-Katholische Gemeinde der Zukunft wird agiler.

Wenn wir uns als Kirche entwickeln wollen, wird der Satz "Das haben wir schon immer so gemacht!" in Zukunft in unseren Gemeinden mehr und mehr verschwinden. Und das hat ebenfalls mit unserer alt-katholischen "zeitgeistigen" DNA zu tun. Sowohl wirtschaftlich (Tesla und Google sind diesbezüglich die bekanntesten Beispiele) als auch gesellschaftlich werden uns immer mehr die Leitfragen "Geht nicht? Warum eigentlich?" führen und unsere Gemeinden zu stilistischen "Relaunch-Zyklen" (z.B. bei der Gestaltung unserer Gottes- und Gemeindehäuser) motivieren. Apropos: haben Sie einmal den Einrichtungsstil Ihres Gemeindezentrums aus der Sicht eines vollkommen Außenstehenden betrachtet? Schauen Sie einmal wie oft sich Cafés einen neuen Anstrich/Stil/Mobilar gönnen um attraktiv zu bleiben – da ist auch in unserer Kirche noch etwas Luft nach oben!

7) Alt-Katholische Gemeinde der Zukunft wird Heilsort.

Wenn Sie die bislang eher nüchtern gehaltenen Thesen irritiert haben - hier eine These, die vermeintlich überhaupt nicht zu denen vorher passt (was ich naturgegebenermaßen anders sehe :-)): Unsere Gemeinden werden in Zukunft Orte sein, in denen Heilung geschieht und erfahrbar ist - oder sie werden nicht mehr existieren. Dies gilt natürlich auch im Rückblick! Wenn unsere Gemeinden primär Orte für schöne Konzerte und tolle Vorträge sind, hat das in der Vergangenheit vielleicht noch aufgrund unserer volkskirchlichen Struktur getragen - aber die Frage der "Systemrelevanz" wird nach Corona nicht nur radikaler gestellt werden, sondern sie ist für die meisten auch schon beantwortet: Was bringt (mir) Kirche? Und da erlebe ich unsere Kirche als einen Ort mit großem Potenzial (bei zeitgleicher latenter Überforderung): viele unserer Mitglieder kommen mit einer (manchmal unbewussten) Verletzungsgeschichte zu uns und sind auf der Suche nach Heilung mit ihrer Biographie. Und um den Blick zu weiten: die Sehnsucht nach erfahrbarer Heil(ig)ung betrifft nicht nur Konvertiten, sondern jedeN SuchendeN. Wenn es alt-katholischer Gemeinde der Zukunft noch mehr als jetzt schon gelingt, Ort der Heil(ig)ung zu sein (in großer theologischer Weite!), ist die Frage nach dem "was Kirche mir bringt" bereits positiv beantwortet.


Kommentare

  1. Sehr spannende Thesen, vielen Dank! Zu zwei Punkten habe ich Diskussionsbedarf:

    - Du schreibst, unsere Gemeinden bestünden aus Menschen verschedener Milieus und werden in Zukunft noch diverser. Das ist alles relativ. Ich nehme da eine große Mehrheit von aus Deutschland stammenden bildungsbürgerlich geprägten Menschen wahr. Das ist aber hierzulande generell die Situation des Christentums. Ich kenne nur wenige etnisch gemischte christliche Gemeinden in Deutschland. In Frankreich habe ich das ganz anders erlebt.
    - Bei den Ausführungen zur Zeitgeistigkeit und "immer was Neues" habe ich Widerstände. Wir sollen den Leuten im Hier und Jetzt begegnen, aber das heißt für mich nicht, alle paar Jahre die Liturgie und die Kirchenausstattung dem Trend anzupassen.

    AntwortenLöschen
  2. Lieber Ulf,
    ich stelle die ersten 6 Thesen hier mal hintenan und konzentriere mich auf die siebte.
    Ich finde, deine Überschrift weist in die richtige Richtung. Das Anliegen liegt auch mir am Herzen;
    weniger allerdings der Heilsort als vielmehr die Zusage und Erfahrung von Heilswirklichkeit. Dabei
    und dafür kann dann die Gemeinde durchaus der rechte Ort sein, muss es aber nicht. Und selbst das,
    was wir, intersubjektiv, als Heil (-geschehen) wahrnehmen oder als Gottesnähe gedanklich
    vorwegnehmen, kann im konkreten Fall strittig sein und zu Missverständnissen führen. Auch davon
    möchte ich zunächst nicht schreiben, obwohl es viel darüber zu ‚kommunizieren‘ gibt. Ich gehe davon
    aus, dass das Heil hier unten Wirklichkeit wird.
    In diesem Zusammenhang treibt mich etwas anderes um, und wie ich weiß, nicht nur mich. Es
    handelt sich dabei, so scheint es zunächst, um eine neuzeitlichere Erscheinung.
    ‚Nehmen wir mal an, ein junges Paar, mit dem es das Schicksal gut gemeint hat, leistet sich im Herbst
    dieses Jahres eine schicke Penthouse-Wohnung in exponierter Lage und mit einer kleinen nicht
    einsehbaren Dachterrasse. Alles ist frisch und neu und der Drang steigert sich, schon jetzt die große
    Freiheit und Wärme eines Sonnenbades zu genießen, wenigstens für 10 Minuten. Sie nehmen ein
    Sonnenbad und holen sich einen Schnupfen. Die Sonnenstrahlen, sofern sie hin und wieder durch den
    Dunst der Novembersonne dringen, sie sind einfach zu schwach geworden und sie wärmen nicht
    mehr.‘
    Nehmen wir dann an, dass die Strahlen der güldenen Sonne Gottes uns in unseren hiesigen
    Behausungen vielerorts auch keine Freud‘ und Wonne mehr schenken können. Sie wärmen uns nicht
    mehr, weil sie uns nicht mehr erreichen. Wir wissen, sie sind da, und sie strahlen nur entfernter; und
    manchmal glauben wir selbst das nicht mehr. Da hilft weder nervöses Flügelschlagen noch
    angestrengter Optimismus. Immerhin vermuten wir, dass sich hinter dem unergründlichen Nebel des
    Himmels noch was verbirgt. Und dies ist doch das Entscheidende. Sollten wir nicht unseren Ehrgeiz
    und unser Hoffen daraufsetzen, in Verbindung mit dem zu kommen, was sichtbar wird, wenn sich die
    Nebelschleier verziehen? Es könnte ja sein, dass in diesem Bewegungsvorgang, wie auch immer er
    sich im Einzelnen vollziehen mag, Heil liegt! Und wer da mitmacht ist Kirche. Außerdem war man
    schon immer gut beraten, sich von ‚der verwalteten Kirche‘ nicht zu sehr beeindrucken zu lassen.
    Denn es ist nie ‚die Kirchengemeinde ́ allein, die`s bringt ́, selbst wenn sie Heimat ist.
    Und dennoch gibt es natürlich etwas, das es bringt! Aber das ist wohl weniger an bunte Kleider,
    kunstvolle Choreografien im Gottesdienst oder logistische Höchstleistungen in der
    Gemeindeverwaltung gebunden, so sehr ich dies auch schätze und zu würdigen weiß.
    Sagen wir`s mal so: Wenn sich ein Geist der ‚Getragenheit‘ und die Lust auf mehr Licht einstellt, dann
    ist es vielleicht so weit. Das ist nur nicht so einfach zu machen. Denn wenn das Licht nicht von oben
    kommt, dann ist es kein Licht. Aber in den Bemühungen um Licht liegt allein schon Segen und die
    Reibungen um`s Wort schweißen zusammen.
    Natürlich habe ich erfahren, dass ‚meine Denke‘ nicht gerade im Schwange ist, Ich bin dennoch
    überzeugt:
    Ein anthropologisches Ausstopfen der religiösen Identität für die Lage in hiesigen Zeiten wird
    scheitern. Das Entfalten eines höheren oder fühligeren Menschentums sollten wir anderen
    überlassen. Die machen das wenngleich nicht besser so doch zumindest überzeugender und deren
    Failures sind weniger peinlich.
    Heil werden kommt immer von oben, auch im Kreis der Gemeinde. Und wenn die erbaulichen und
    erfüllenden Aktivitäten von Gemeinde sozusagen immer auch als Emanationen wärmender Strahlen
    von oben empfunden werden, dann ist es gut. So was muss gelegentlich gemeinsam erkämpft
    werden. Man nennt die Ergebnisse dann Gewissheiten und die müssen - zumindest einmal - durch
    die Gehirnwindungen. Edmund Grosch

    AntwortenLöschen

Kommentar veröffentlichen

Beliebte Posts aus diesem Blog

Corona und die Pest