Corona und die Pest

 Eine furchtbare Übertreibung, wenn man das Coronavirus mit der schwarzen Pest des 14. Jahrhunderts vergleicht? Was die Todesrate angeht, stimmt das natürlich: insgesamt ca. 30% der europäischen Bevölkerung sind bei dem ersten Pestschub 1347-50 gestorben, vereinzelt waren die Todesraten wesentlich höher. Aber was die Reaktion der Bevölkerung und die wirtschaftlichen Auswirkungen angeht, sieht einiges erstaunlich ähnlich dem, was wir jetzt alltäglich erfahren.

Ein Blick 600 Jahre zurück

In seinem Buch Der schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters (1994) beschreibt Klaus Bergdolt detailliert die Verbreitung der Krankheit durch die europäischen Länder. Die Ursachen kannte man nicht, verwies oft auf „verpestete“ Luft oder Fäulnisgerüche von verdorbenen Lebensmitteln oder Brunnen. Mehrmals wird in zeitgenössischen Berichten vermerkt, dass allein der Anblick eines Pestkranken töten konnte – ein Hinweis auf die besonders tödliche Variante der Lungenpest, die durch Tröpfcheninfektion weitergegeben wurde. Die wichtigste Verbreitungsart blieb aber die Rattenflöhe, die auf den Handelswegen durch die Länder gingen. Bis eine Stadtbevölkerung, z.B. der Hafenstadt Genua in Italien, merkte, dass frisch angekommene Seeleute an der Pest erkrankt waren, war es schon zu spät: sie breitete sich unter den Einheimischen aus. Die Ärzte waren hilflos, weil sie auf Humoraltheorien und Astrologie setzten. Doch haben städtische Behörden schnell zu empirischen Maßnahmen gegriffen: Isolation der Kranken, Abschottung der Stadt gegen Auswärtige. Personen, die sich es leisten konnten, flohen in pestfreie Gegenden und trugen oft die Krankheit dabei weiter. Für die Ärzte (und die wenigen Ärztinnen, die es im Mittelalter durchaus gab) wurden die Schnabelmasken erfunden. In den Schnabel wurden stark riechende Kräuter gegeben, um gegen die „verpestete“ Luft zu wirken. Sie mögen gegen die Lungenpest hilfreich gewesen sein, gegen die Flöhe eher nicht.

Aus Furcht wurden Erkrankte oft von ihren Familien alleingelassen. Noch Gesunde gaben sich häufig dem Konsum hin: Alkohol, erlesene Speisen, Luxusgüter – man könnte ja jederzeit selbst getroffen werden. Nach dem Ende der Pestphase ist ein deutlicher Trend zum Luxus zu erkennen, der auch auf die wirtschaftliche Verbesserung der Überlebenden zurückzuführen ist, wegen Erbschaften und auch, weil sie ihrer Arbeit jetzt teurer verkaufen konnten. Während der Pestzeit gab es auch Hungersnöte, z.B. unter Flüchtlingen, die in Städte kamen, wo es in den geschlossenen Zünften keine Arbeit für sie gab und die Regierungsgeschäfte nicht durchgeführt werden konnten, weil die Ratsmitglieder gestorben oder geflohen waren. Wo die Landbevölkerung getroffen war, blieben Ernte und Saat aus, und der Hunger folgte. Es gab natürlich auch Menschen, die weiterhin sich ihrem Nachbarn verbunden fühlten. So zum Beispiel in Venedig die scuolae, von Laien eingerichtete Wohltätigkeitsorganisationen, die aus christlicher Nächstenliebe handelten und Hunderte von Mitgliedern an die Pest verloren.

Kirche in Zeiten der Pest

„Auch die Liturgie der Kirche wurde der gefährlichen Situation angepasst. Der Klerus beschränkte den Kontakt mit der Bevölkerung auf das Nötigste. Gemeindepfarrer und Mönche waren versucht, sich ihrer Pflicht, die Sterbesakramente zu spenden, zu entledigen“ - was nach damaliger Auffassung bedeutete, dass die sterbende Person in die Hölle kam. Bergdolt zitiert einen Trienter Kanoniker: „Viele beichteten, als sie noch gesund waren. Tag und Nacht wurden auf den Altären die Kommunion und das heilige Krankenöl ausgelegt“ - damit sich die Gläubigen selbst bedienen konnten und die Priester nicht in die gefährlichen Krankenzimmer gehen mussten. Natürlich gab es auch Gemeindepfarrer, die auf dem Posten verblieben und deswegen starben: in Norwich, der zweitgrößten Stadt Englands, und in Bristol starben 50% der Priester. Es gab vier Erzbischöfe von Canterbury 1348-9.

Angst und Endzeitstimmung

Bergdolt schreibt zu den Reaktionen der jeweiligen Regierungen auf die Pest: „Die ersten Schritte der Regierungen stellten Kontrollmaßnahmen dar, z.B. Einlaßverbote und die Meldepflicht Verdächtiger, ferner die Vertreibung von Bettlern und Vagabunden. Der Übergang zu Fremdenhaß und der Verdächtigung unliebsamer Mitbürger, die schließlich in Judenpogromen kulminieren sollten, war fließend, wenn auch nicht zwangsläufig.“

Die allgemeine Angst stellte sich neben der Judenverfolgung in dem Phänomen der Geißlerzüge dar, wobei Männer zu Hunderten durch die Städte zogen und sich in einer Kirche blutig peitschten, um ihre Buße vor Gott kundzutun. Diese Bewegung ging mit Vorstellungen vom nahen Ende der Welt einher. Anfangs fanden solche Geißlerbewegungen Unterstützung bei Kirche und Obrigkeit; später kam es zu Diebstählen und Gewalttätigkeiten, was die Obrigkeit gegen die Geißler stimmte. Nach einer Frankfurter Chronik waren die dortigen Geißler für Morde an den Frankfurter Juden verantwortlich. Andernorts mag es sein, dass die durch die Geißler hochgeschraubten Erwartungen des baldigen Jüngsten Gerichts dazu beitrugen, dass die enttäuschte Bevölkerung nach Schuldigen für die Pest suchte und sie in den Juden fand. Überall in Deutschland kam es zu Massenmorden, Enteignungen und Häuserverbrennungen, wobei viele Juden „freiwillig“ in den brennenden Häusern blieben. Der schändliche Rekord der Grausamkeiten wurde erst sechshundert Jahre später übertroffen.

Der Vergleich mit dem 21. Jahrhundert

Und wie steht es mit dem Vergleich mit unserer heutigen Corona-Zeit? Natürlich ist das Geschehen nicht so extrem: Corona ist bei weitem nicht so gefährlich wie die Pest, und die Krankheitsursachen sind bekannt. Aber Schiffe, die nicht landen dürfen aus Angst, dass sie die Pest mit sich führen, erinnern an die Reiseverbote, die es in diesem Frühjahr gegeben hat. Die Quarantäne (40 Tage Isolation) wurde in den 1370er Jahren in Venedig und Ragusa eingeführt, im Zuge eines späteren Pestschubs. Und die Erzählungen bei Boccaccio und anderen Zeitgenossen von Menschen, die sich hemmungslos dem Essen und Trinken überlassen, erinnert an die Corona-Partys, die nach einer ersten Zeit relativer Selbstdisziplin immer wieder vorgefallen sind und z.B. zur Wiederschließung von Lokalen auf Ibiza geführt haben. Auch die Corona-Leugner dürften hierhingehören, und die Verschwörungstheoretiker finden eine Parallele in den Geißlern und ihre Endzeitstimmung.

Ja, und die Gottesdienste. Im Vergleich zum 14. Jahrhundert ist es heute eher so, dass die Kirchen oder zumindest einzelne Gemeinden gerne mehr tun würden, als sie dürfen, nach den staatlichen Anweisungen. Der Schock des Jahres ohne Ostern wird bei uns allen in Erinnerung bleiben. Aus Verantwortungsbewußtsein gegenüber gefährdeten Mitmenschen akzeptiert man aber, dass man gar nicht oder nur mit Einschränkungen am normalen Gottesdienst teilnehmen und das Sakrament empfangen kann. In der Zeit des strengsten Lockdowns im Frühjahr sind Menschen gestorben, ohne dass die Familie dabei sein durfte, geschweige denn Geistliche zur Todesbegleitung. Und wer heute gerne wieder singen möchte, wird an die Fälle erinnert, wo nach einem freikirchlichen Gottesdienst Hunderte von Menschen an Corona erkrankten. Wir wissen ja nicht, wie sich die Lage weiter entwickeln wird: wir sind noch mittendrin im Corona-Geschehen und halten es für wahrscheinlich, dass es wieder größere Einschränkungen, vielleicht sogar einen erneuten Lockdown geben wird.

Und wie sich die Zeit danach entwickeln wird, steht noch aus. Im 14. Jahrhundert gab es trotz der Bereicherung Einzelner durch Erbschaften erst einmal eine große Agrarkrise in ganz Europa. Die mangelnde Nachfrage nach Nahrungsmitteln ließ die Preise in den Keller fallen. Es kamen auch immer wieder Pestschübe. „Vielen Zeitgenossen erschien anfangs unternehmerische Planung, die Erziehung der Kinder, kurz die Vorsorge für die Zukunft sinnlos. … Das Vermögen, das den Erben zufiel, wanderte damit nicht in die Produktion, sondern diente privaten Freuden. Das von der Pest hinterlassene Wachstumskapital wurde, volkswirtschaftlich gesehen, größtenteils verschleudert. Man schuf keine neuen Arbeitsplätze...“


Bei der europäischen Agrarkrise wirkte die Pest beschleunigend auf einen Prozess, der schon vorher begonnen hatte. „Erdbeben, Mißernten, Klimakatastrophen und Hungersnöte hatten längst vor 1348 den Niedergang der Landwirtschaft eingeleitet.“ 1314 hatte es fast das ganze Jahr geregnet, auch in den folgenden Jahren war es feucht und kalt, was zu Hungersnöten und Landflucht überall in Europa führte. Das Märchen von Hänsel und Gretel mag in dieser Zeit entstanden sein.

Bei uns im 21. Jahrhundert bangen viele um ihre Existenz, weil ihre Branche entweder gar nicht arbeiten kann, oder mangels Nachfrage weniger einnimmt. Die Kurzarbeit und die Überbrückungsgelder bieten kurzfristige Hilfe, aber keiner weiß, welche Arbeitgeber diesem Sturm standhalten können werden. Auch hier beschleunigt Corona Prozesse, die schon vorher begannen, wie die Globalisierung, welche preisliche Unterbietung ermöglicht auf Kosten von Sicherheits- und Umweltstandards. Es hat auch schon gegensteuernde Maßnahmen gegeben, wie die Beschlüsse, wieder mehr Medikamente in Europa zu produzieren, um nicht von China und Indien abhängig zu sein.

Judenprogrome gibt es gottlob dieses Jahr nicht, aber die im Vergleich zu 2015 ablehnendere Haltung Migranten und Asylsuchenden gegenüber ist wahrscheinlich mit der verbreiteten und absolut berechtigten Existenzangst in Verbindung zu bringen. Hier sind Christinnen und Christen gefordert, Wege zu finden, wie sie Großzügigkeit und Freundschaftlichkeit leben können, auch wenn Geld knapp ist und man Sorgen hat. Selbst eine einzige Dose Gulasch, der Tafel gespendet, hilft jemandem, dem es noch schlechter geht.

Und was haben wir davon, dass wir diesen Vergleich ziehen mit der mittelalterlichen Seuche? Erstens, dass wir uns dankbar daran erinnern können, was wir trotz allem haben. Wir haben keine allgemeine Hungersnot, Spargel und Erdbeeren konnten doch noch irgendwie geerntet werden. Wir können noch am öffentlichen Leben teilnehmen, wenn wir gesund sind. Wir können Gott danken für Skype und Facetime, mit Hilfe derer wir trotzdem noch unsere Lieben sehen können, wenn wir in Quarantäne leben müssen. Vor zwanzig Jahren hätte eine solche Pandemie noch ganz andere Folgen für unser mentales Wohlbefinden gehabt.

Zweitens, dass wir erkennen können, dass es charakteristische Denk- und Verhaltensmuster gibt, die zu so einer extremen Zeit gehören. In einer unnormalen Zeit ist es normal, sich nicht wie normal zu fühlen. Natürlich haben alle Angst, der eine mehr, die andere weniger. Die einen werden sich dessen nicht bewußt und merken einfach, das sie leicht ausrasten. Die anderen sind dessen sehr wohl bewusst und können schlecht schlafen. Es liegt nicht an uns, es liegt an der Zeit. Wir können Gott um Beistand und Stärkung bitten und darauf vertrauen, dass es uns tatsächlich einmal wieder besser gehen wird. Und wenn wir in uns die Tendenz entdecken, nach Schuldigen zu suchen oder Feindbilder aufzustellen – dann dürfen wir innehalten und uns fragen, ob wir selbst wirklich sachlich urteilen. Jesus sagt, „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.“ (Mt 7,3-5)

Wollen wir uns in dieser schweren Zeit bemühen, positive Zeichen zu setzen, Anderen Mut zuzusprechen und zu helfen, wo wir können. Als wir alle im Lockdown saßen hatte man vielleicht etwas mehr Zeit zum Telefonieren: aber jetzt, wo wir eine Schein-, Halb-, Möchtegernnormalität leben, gibt es ja immer noch Leute, die allein zu Hause sitzen, weil sie angeschlagene Immunität haben, und vielleicht gar nicht merken, wie sehr ihnen der Umgang mit anderen fehlt. Halten wir es mit den Menschen der scuolae in Venedig und reichen wir die Hand einem Nachbarn. Durchs Telefon kann man sich ja nicht anstecken.



Zitate entstammen dem Buch Bergdolts.



Kommentare

  1. Danke für diesen anregenden Artikel! Das Neue an Corona ist ja, dass es für alle tatsächlich etwas vollkommen Neues ist - keiner hat persönliche Erfahrung mit Pandemien. Also fast keiner, die Menschen in Afrika haben einen Erfahrungsvorsprung durch Ebola. Vielleicht können wir von ihnen lernen. Es ist aber auch hilfreich, zu schauen, wie die Menschen mit der Spanischen Grippe vor 100 Jahren oder eben mit der Pest umgegangen sind.

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