Erkenne dich selbst
In dem Orakel von Delphi stehen
drei in Stein gemeißelte Botschaften: „Erkenne dich selbst! Sei! Nichts zu viel!“
Diese drei Sätze symbolisieren für mich die gesamte menschliche Weisheit auf
Erden. Und ich würde sogar behaupten, dass sie den Kern jeder Religion zum Ausdruck
bringen: Selbsterkenntnis, sich nicht rein vom Materiellem oder Status her zu
definieren — also „sein“ und nicht „haben“ — und die goldene Mitte finden.
Der Coronavirus hat
uns sehr hart auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Ein kleiner Virus
schafft es, die gesamte Welt lahmzulegen und in Atem zu halten. Er zeigt uns,
dass noch so technisch und fortschrittliche Nationen nicht so autonom und stark
sind, wie sie meinen. Alles hat seine Schwachstelle.
Diese Ohnmacht und
Desillusionierung ist auch Thema des Buches „Esther“ in der hebräischen Bibel.
Dort regiert der König der Perser und Meder mit dem klangvollen Namen „Achaschwerosch“.
Dieser König herrscht über 127 Länder, so die biblische Erzählung. Doch die
Überlieferung zeigt uns, dass er nur ein halber König ist. Das hebräische Wort
für König „melech“ ist seinem Zahlenwert nach 354 — also genau das Doppelte. Es
gibt also einen Bereich, welcher Achaschwerosch
verschlossen bleibt, wo er nichts zu sagen hat. In Wahrheit regiert er nur über
ein halbes Reich. Dies ist genau das, was wir gerade erleben. Das Leben und die
Natur lassen sich nie vollständig kontrollieren. Wir können noch so viele Pläne
machen, versuchen, uns wirtschaftlich abzusichern, uns in unseren Häusern und
Wohnungen sicher und geborgen fühlen — aber es gibt Bereiche und Situationen,
wo das alles nichts bringt. Wo wir merken und spüren, dass viele „Sicherheiten“
im Leben nur scheinbare Sicherheiten sind. Wo alles wie ein Kartenhaus zusammenstürzen
kann.
Doch das Buch „Esther“ hat
noch andere wichtige Mitteilung zu machen. „Esther“ heißt auf Hebräisch: „Ich,
der Ich verborgen bin.“ Gott wird in diesem biblischen Buch nicht namentlich
genannt, sondern nur indirekt. Eben „Esther“. Und das ist die andere wichtige
Seite, auf die wir unser Leben bauen können. Egal, was passieren mag, was wir in
der Hand haben oder auch nicht: alles geschieht in der Gegenwart Gottes. „In
ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“, sagt der Apostel Paulus in der Apostelgeschichte.
Das ist eine Zusage, die besonders in der gegenwärtigen Zeit sehr wichtig ist.
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